Bei der Europawahl haben Sammlungsbewegungen mit nationalistischer Ausrichtung kräftige Zugewinne erzielt, am kommenden Sonntag wird in der Türkei wahrscheinlich die AKP mit ihrem Kandidaten Recep Tayyip Erdoğan die Präsidentschaftswahlen gewinnen.

Einen Tag vor dieser Präsidentenwahl ist in Istanbul einer der prominentesten regierungskritischen Journalisten festgenommen worden. Mehmet Baransu wurde bei der Festnahme verprügelt und ihm wird Beleidigung von Amtsträgern vorgeworfen. Daneben kam es zu verbalen Übergriffen auf eine türkische Journalistin, die für den „The Economist“ schreibt. Einschüchterung und psychischer Druck, Unterdrückungsmaßnahmen autokratischer Systeme gegen eine freie Presse, in der Türkei an der Tagesordnung und von einer Mehrheit der Wähler bestätigt.

Man fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Wie derartig undemokratische und staatsgefährdende Parteien und Politiker überhaupt an die Macht kommen und sich dort festsetzen können. Eine der Ursachen, unter vielen verschiedenen, ist die Organisation als Sammlungsbewegung.

Eine Bewegung, die sammelt

Unabhängig von der tatsächlichen Ideologie, den realen Absichten und Zielen oder ideologischen Standpunkten, zielen Sammlungsbewegungen vor allem darauf ab eine Vielzahl von Themen, ideologischen Strömungen und Stimmung zu sammeln und in einer politischen Vereinigung zu bündeln. Dahinter steckt die Idee der italienischen Faschisten vom Liktorenbündel, einem Rutenbündel mit Kampfbeil. Die einzelne Rute ist schwach und biegt sich, das Bündel ist straff und stark, verleiht dem Beil zusätzliche Reichweite und Kraft. Die Gemeinschaft vieler einzelner Interessen wird zum Kampfbund für den gemeinsamen Sieg.

Damit wird Partikularinteressen und den Positionen kleiner Gruppen scheinbar zum Durchbruch verholfen. Über den Erfolg, auch wenn er oft nur scheinbar ist, entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Interessen vermengen sich, werden zum Gemeinschaftsinteresse, die Identität der Einzelnen und kleinen Gruppen geht verloren und die einzige und gemeinschaftliche Identität der Sammlungsbewegung bildet sich heraus. Aus der Sammlungsbewegung entsteht eine Einheitsfront mit Mehrheitspotential.

Sammlungsbewegungen spannen ein Netz aus feingewobenem Populismus auf, das jeden streift, jeden berührt und beim einen oder anderen Thema verfängt man sich in den Maschen des Netzes, mitgefangen, mitgehangen. Von Fischzug zu Fischzug werden sie stärker, ernten gegenseitig Anerkennung, erzeugen einen Winner-takes-it-all-Effekt und das wohlige Gefühl einer starken und positiv orientierten Gemeinschaft anzugehören.

Wachsamkeit der Demokraten

Dieser Mechanismus sollte den eingefangenen politischen Aktivisten und Politikern bewusst sein, zumal er einfach zu durchschauen ist. Hier kommt aber die nostalgische Grundstimmung vieler der versammelten Strömungen zum Tragen. Ein stark verbreiteter gemeinsamer Nenner der versammelten Themen ist die Schnittmenge der „guten alten Zeit“. Die Verklärung einer Vergangenheit, der die Betreffenden emotional und rational verhaftet sind, basiert auf einer Sehnsucht nach Restauration, nach Vorgestrigkeit, nach dem Bekannten. In dieser Vergangenheit, in der sie stehen bleiben, werden sie von Sammlungsbewegungen abgeholt.

Betrachtet man einen inzwischen abgeschlossenen Vorgang einer historischen Sammlungsbewegung, dann kann man diese Mechanismen leicht erkennen, analysieren und die Folgen betrachten.

Es geht dabei um eine Bewegung, die sich als solche bezeichnete, und im frühen 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum zahlreiche Wähler aus vielerlei Schichten gesammelt hat. Am Beginn standen Themen, denen jeder zustimmen konnte und die den Mainstream und Zeitgeist abbildeten. Sie standen im Konsens der Mehrheit, sowohl der etablierten Schichten, als auch der Progressiven und Intellektuellen.  Wer hätte in den 1920ern etwas dagegen gehabt wenn eine Partei propagiert, dass Syphilis und Prostitution ein Problem sind, gegen das man entschieden kämpfen muss? Dieses Thema war zweitwichtigster Programmpunkt jener Sammlungsbewegung und vereinte einen Wunsch aller Mitglieder. Widerspruch war für diese Forderung nicht zu erwarten. 

Passivität ist Zustimmung, ist Mitgliedschaft

Dazu muss keiner in eine Richtung marschieren, nicht die Hacken zusammenschlagen, dazu reicht es sich geistig nicht zu bewegen, still zu halten und sich dann vom Netz der versammelten Ideen einfangen zu lassen. 

Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt politische Mitbewerber würden diesen Wunsch nicht teilen, nicht tätig werden, gar eine konträre Meinung vertreten. Als ob es in der Weimarer Republik eine Partei gegeben haben könnte, die Prostitution gut hieß oder gar die Verbreitung von Syphilis unterstützt hätte. Eine geradezu groteske und absurde Annahme. 

Schauen wir uns die Themen an, die von derartigen Bewegungen und auch von Erdogan und der AKP wie die Sau durchs Dorf getrieben werden. Währungsnostalgie, Überfremdungsangst, Nationaltümelei, Gute-alte-Zeit-vor-der-Morderne, wirtschaftlicher Fortschritt durch reaktionäre Prinzipien, religiöse Orthodoxie, Entfernung von Minderheiten aus der öffentlichen Wahrnehmung, egal ob sexuelle Orientierung, Religion, Ethnie oder Migrationshintergrund, die Themen sind in regionaler Übertragung immer die gleichen.

Und was passiert?

Die geistig Trägen fangen an zu kuscheln. Dass sich nach Jahrzehnten keiner mehr an schlimmen Seiten des früheren Lebens erinnert, dass in jeder Zeit entsprechende Veränderungen vorkamen, die Jugend unbequem und die Nonkonformisten angsterzeugend waren, das wird verdrängt. Oft ist es auch mangelnde Bildung, geringe Kenntnisse der Historie und die Verklärung der Vergangenheit in der familiären Tradition. Dass es die Relikte der Vergangenheit sind und nicht deren Abwesenheit, die für anhaltende Probleme sorgen und eine reibungslose Anpassung an den Fortschritt und die Veränderung der Lebenswelt verhindern, all das wird ausgeblendet. 

Die Opfer der Sammlungsbewegung rennen mit voller Absicht, im Wissen des Kommenden, in eine Richtung, die in der Regel für immer die gleichen Punkte steht.

Erkennungssignale

  • Einzelwährung alter Art – schwach und inflationsbedroht erleichtert sie den Regierenden durch großzügige Ausgaben sich den Wählern gefällig zu machen, Wachstum auf Pump zu erzeugen und die tatsächlichen Folgen unbekannten zukünftigen Generationen aufzuladen oder durch einen Krieg den Besiegten. Was sich regelmäßig als naiver Wunschtraum herausstellt, die Zeiten des Kolonialismus sind vorbei. Und wenn es ihn noch gibt, dann profitieren Oligarchen und nicht Staaten davon.
  • Einschränkung der Migration – sowohl bei der Einwanderung, als auch bei der Abwanderung werden Hürden aufgebaut. Der Bürger wird zum Eigentum des Staates, der diesen Anspruch durch Bereitstellung von Bildung und des restlichen Systems Staat erworben hat. Die Gesellschaft wird statisch, berechenbar und Veränderungen werden minimiert. Cocooning im ganz großen Stil, die Idealvorstellung der Generation Couchpotato – einer ewigen und ständig sich neu bildenden Generation.
  • Wirtschaftsprotektionismus – Minimierung der Importe und Maximierung der Exporte, ein System, das jedem mit Grundkenntnissen in Mathematik absurd und unwirklich erscheint.  Kurz gesagt, eine Sackgasse, die von der Globalisierung ad absurdum geführt wird und die Industrie und Wissenschaft eines Landes in die Isolation führt, die Möglichkeiten beschränkt und damit die Wettbewerbsfähigkeit schwächt.
  • Kulturnationalismus – eine Abschottung der zeitgenössischen Kultur von der anderer Länder und Regionen, Bewahrung alter Sprache und Ignoranz gegenüber zwangsläufigen Wortneuschöpfungen. Musik, Literatur, darstellende und bildende Künste werden der Tradition und Verknöcherung verpflichtet. Keine neuen Strömungen sollen verunsichern oder gedankliche Auseinandersetzung fordern. Das Prinzip Biedermeier und Renaissance bestimmt den Kulturbetrieb. Selbst innovative Geister aus dem eigenen Kulturkreis werden dem Vorwurf ausgesetzt „artfremde“ Kultur zu fördern.

Taktik und Strategie der Anti-Demokraten

Die Sammlungsbewegungen haben eine Interesse daran, dass die Gesellschaft möglichst statisch ist, berechenbar ist und damit beherrschbar. Ist doch ein Kernelement dieser Bewegungen die autokratische Natur ihrer führenden Köpfe. Diese dulden keine Positionen abseits der eigenen, erlauben freie Meinungsäußerung, nur solange die Meinung ihrer eigenen entspricht und verfolgen Abweichung als Gefährdung des Staates. Damit den Anspruch erhebend, es gäbe keine Unterscheidbarkeit von Staat und Sammlungsbewegung. Darin finden sie Zuspruch und Bestätigung durch viele Bürger und insbesondere durch die Wähler.

Die dümmsten Kälber wählen sich ihre Metzger selbst.

Bei all diesen politischen Bewegungen gibt es keine Analogie der Themen, keine der Anliegen, sondern eine der Methodik. Der Aufbau und das Vorgehen all dieser Sammlungsbewegungen folgt den strategischen Modellen von Joseph Goebbels. Dort liegt die Übereinstimmung. 

Gestärkt werden diese Bewegungen in den letzten Jahren durch eine zunehmende Authentizität ihrer Köpfe. In Anlehnung an Hanlon’s Razor muss man feststellen, dass diese Führungsfiguren nicht von sinisteren Absichten getrieben werden, sondern naiv und mit selektiver Bildung in einer Pseudo-Vergangenheit verharren, deren Klischee ihnen tatsächlich erstrebenswert erscheint. Sie leben einen Traum, den viele mit ihnen teilen. Obwohl jeder weiß, dass das Aufwachen so zwangsläufig ist wie der Sonnenaufgang.

Deshalb kann man auch nicht über ihre Absichten diskutieren, man muss klipp und klar diese Vergangenheit entmystifizieren. Und daneben den in der Zukunft zu bezahlenden Preis in Rechnung stellen. Wer soll die Schulden zahlen, die Umweltsünden bereinigen, den Kollateralschaden an der Wirtschaft anderer Länder begleichen und vor allem für die persönlichen Schicksale und verlorenen Leben die Verantwortung übernehmen.