Im Allgemeinen wird Armut mit prekären Lebensverhältnissen in Verbindung gebracht und als Folge „neoliberaler“ Machenschaften gesehen. Die Neoliberalen wären schuld, das hört sich an, als habe es etwas mit „liberal“ zu tun. Hat es aber nicht, wenn schon, dann mit „libertär“. Nur hat die Entstehung eines Prekariats nichts mit individuellen Freiheiten zu tun, das wäre dann tatsächlich ein libertärer Ansatz. Nein, diese Entwicklungen sind das Ergebnis einseitiger kollektiver Freistellung von staatlicher Teilhabe und gegenseitiger Kontrolle für eine Randgruppe, eine reiche Randgruppe. Und das entspricht nicht nur der Freiheit von staatlichen Zwängen, was es libertär machen würde. Aber eben auch nicht liberal, auch der Liberalismus kennt keine Förderung von Privilegierten durch den Staat. Auch der gesellschaftlichen Seite des Miteinander wird eine Absage erteilt. Diese „libertäre“ oder „neo-liberale“ Ideologie ist in Wahrheit eine Form der elitären Anarchie, einer Restauration des Rechts des Stärkeren.

Die Wurzel der neuen Armut ist nicht „der Reichtum“ oder „der Staat“, sonder „die Gier“ und „die Bereicherung“.

Das Ganze ist ein sozialer Atavismus. Der Einfall von Hyänen und Wölfen in die Weidelandschaft. Und mit Hirten, die darauf warten, dass sich die Herden selbst mobilisieren … am Ende kämpfen die Hirten noch auf Seiten der Hyänen und Wölfe, wie man gestern gesehen hat.

Es beginnt schon mit der offiziellen Sprachregelung, mit den Wörtern, mit denen die Demagogen ihre Opfer fangen. Man denke nur an „Trickle Down“ und den Vorstellungen und Bildern, die es hervorruft. Nach dem Schema könnte man Löwen neo-vegane Esser nennen, Dick Cheney einen Neo-Pazifisten und die BILD-Zeitung eine neo-lexikalische Bildungslektüre.

Nimmt aber an, dass die Ursache in einer sozial unausgewogenen Globalisierung und einer libertär legitimierten Ausbeutungspolitik großer Konglomerate und Oligarchen liegt, dann muss man feststellen, dass Deutschland dieser Entwicklung noch sehr viel Widerstand entgegensetzt. In Deutschland geht die soziale Schere auch auf, aber langsamer. Die Zustände in anderen technologisch ähnlich entwickelten Ländern sind um Welten schlimmer und Anlaß zum Verzweifeln. Oder für Revolutionen.

Deutschland ist nur um Nuancen schlechter als die Vorbilder sozialer Gerechtigkeit. Und verglichen mit Ländern mit ähnlichem Pro-Kopf-Vermögen sogar führend. Es ist schließlich einfacher einen guten Gini-Index zu haben, wenn alle arm sind. Aber den Gini-Index trotz den Superreichen der Republik in der Spitzengruppe zu halten, das ist nicht perfekt, aber schon recht ordentlich. Deutschland und seine Regierung machen ihre Sache gut.

Und Ungarn, Tschechien und Slowenien tricksen mit ihren seltsamen Konstrukten zur Scheinselbständigkeiten und Erfassung einiger Kapitaleinkünfte. Das nivelliert die sozialen Verhältnisse nur auf dem Papier, nicht in der realen Lebenswelt.

Das ist trickreich und aktuelle Veröffentlichungen zum Thema beziehen sich auch nicht auf den Gini-Index. Bei den OECD-Zahlen, die sie nennen, handelt es sich um Brutto-Einkünfte. Deshalb hat sich auch die Vermögensverteilung nicht so extrem verändert wie die Brutto-Einkommensverteilung. Dies berücksichtigt zwei Unterschiede des deutschen Systems von anderen Industrienationen nicht, bei deutschen Pauschlöhnern ist Brutto=Netto, höhere Einkommen zahlen höhere Steuern und es gibt in Deutschland eine Single-Payer-Krankenversicherung und den Generationenvertrag der Rentenversicherung. Das Ignorieren derartiger Unterschiede in den nationalen Ökonomien nivelliert und schadet der Vergleichbarkeit.

Deshalb schau ich eher auf den globalen Vermögensverteilungsindex. Der zeigt, was hinten rauskommt. Schließlich weiß niemand ob 1€-Jobs und Aufstocker mit ihren Transferlöhnen in die Statistik aufgenommen werden oder nur mit ihrem kleinen Brutto.

Die OECD-Vermögensliste ist kompletter Mist. Sie bezieht noch weniger Systemunterschiede ein als die Einkommensvergleiche. Da werden die USA mit privater Altersvorsorge, privaten Rücklagen für Studium und Krankheitskosten und Deutschland, bei dem diese Vermögensanteile vergesellschaftet sind, in einen Topf geworfen und dazu noch Immobilien mit Blasenpreisen in den USA mit solchen in Deutschland, die wesentlich realistischere Wertermittlungen haben. Da werden Nationen am Rande Pleite mit solchen verglichen, die starke Rücklagen und Substanz haben.

Ich hab vor 3 oder 4 Jahren für Recherchezwecke (Griechenland-Euro-Krise) die Schulden und Vermögen pro Haushalt normiert und dabei festgestellt, dass der Durchschnittliche Deutsche rund 600.000 € an Kapitalwert nur über seine Rentenansprüche besitzt. Das ist umgekehrt ein Wert, der in anderen Ländern ohne derartige RV dann irgendwo im Depot liegt und in entsprechend hohe Vermögenswerten resultiert oder aber auch nicht.

Am Ende war dann zu sehen, dass der durchschnittliche amerikanische Privathaushalt incl. anteiliger Staatsschulden mit dem 6-fachen seines BIP verschuldet ist. Wohingegen der durchschnittliche griechische Haushalt ein Vermögen ohne Rentenansprüche vom 4-fachen BIP hat und mit Rentenansprüchen von 10-fachen BIP. Ohne Normierung auf gleiche volkswirtschaftliche Mechanismen sind diese Tabellen mit Vorsicht zu genießen. Auch einer der Vorzüge der Gini-Liste, dort ist eine Normierungskomponente enthalten.

Und eine Objektivierung von Armut ist durchaus möglich. Durch eine Definition über die ökonomischen Möglichkeiten zur Teilhabe an Kulturformen und der Möglichkeit sich Kompetenzen zum sozialen Aufstieg zu erwerben.

  • Wer außer der Sicherung der eigenen Existenz keine Mittel hat, um auch am kulturellen Leben teilzuhaben, der ist arm.
  • Wer außer der Sicherung der eigenen Existenz keine Mittel hat, um sich fortzubilden oder anderweitig zu  befähigen und dadurch sozialen Aufstieg möglich zu machen, der ist arm.
  • Wer keine Mittel hat, um die eigene physische Existenz sicherzustellen,
  • wer keine ausreichende Nahrung erwerben kann,
  • wer wegen der ökonomischen Situation keinen Wohnraum hat, der wenigstens den Anforderungen der untersten Mietspiegelkategorie ohne Punktabzug entspricht,
  • wer ökonomisch gezwungen ist beschädigte Kleidung zu tragen,
  • wer nicht über Grundmobiliar verfügt und eine abschließbare private Aufbewahrungsmöglichkeit oder ein entsprechendes Zimmer hat,
  • wer im Rahmen der Wohnsituation nicht über eine Intimsphäre verfügt
  • wer keine den ÖPNV oder anderer Transportmittel nutzen kann, die notwendig sind um die Grundversorger zu erreichen oder die für ihn zuständigen Behörden, der ist nicht nur arm, der ist notleidend und entwürdigt.

Hier ist die funktionale menschliche Existenz eingeschränkt, das Existenzminimum unterschritten.

Es gibt noch eine Reihe anderer Kriterien, die aber mE. nach vernachlässigbar sind, da dadurch der Personenkreis nicht mehr erweitert wird. Eigenes Konto, Telefon, TV usw. , die Liste ist dann lang und wird im Zusammenhang mit der Ermittlung der HartzIV-Sätze genannt, aber die obigen Punkte sind die, die vom Würdeanspruch im §1 GG abgedeckt werden und schon so umfassend sind, dass der Personenkreis, auf den die anderen Kriterien zutreffen, bereits erfasst ist.

Die politische Diskussion muss endlich die moralphilosophische, verwaltungstechnische und ökonomische Theorie zur Armut miteinander verbinden und einen soliden Konsens finden, eine gemeinsame Basis für Betrachtungen, Diskussionen und Entscheidungen.

Und als ersten Schritt muss man „Armut“ inhaltlich, von den Menschenrechten und der Würde her, einen Rahmen geben.

Eindeutig ist, dass alle, die unter dem Existenzminimum leben, also gesundheitlich negative Folgen aufgrund des Mangels erleiden, deren physische Existenz an sich gefährdet ist, dass diese in Armut leben. Das ist dann objektivierbar innerhalb des jeweiligen Lebensumfeldes auch in Geld ausdrückbar. Jemand, der in Seoul oder Zürich lebt, wird schon mit einem in Nairobi oder Toronto mittleren Einkommen unter dem Existenzminimum leben und von Obdachlosigkeit bedroht sein.

In einer derartigen Situation befindet sich in Deutschland niemand, da jeder einen Anspruch auf ein Transfer-Einkommen hat, das diesen Bedarf abdeckt. Hier geht es dann auch nicht um Armutsursachen, sondern um Bürokratie-Versagen. Hier müssen keine Gesetze geändert werden, sondern deren Umsetzung.

„Armut“ ist eine Beeinträchtigung weit über die wirtschaftlichen Bedürfnisse hinaus. Und über deren Kriterien und Umfang kann nur über die Inhalte diskutiert werden. Der Umfang dieser Schicht ist beispielsweise über den Würde-Begriff bestimmbar. Solange kein würdiges Leben möglich ist, aber die Existenz an sich gewährleistet ist, solange ist jemand nicht in Not, aber in Armut.

Die Armutsdiskussion ist deshalb im Kern eine Diskussion über die Würde des Menschen und das Minimum an Würde, über das Menschenrecht auf Würde und den Anspruch aus dem Grundgesetz.

Armut ist entwürdigend.