Das politische Deutschland erlebt anlässlich der Gedenkstunde für die deutschen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg die Rede eines jungen Russen. Als Ergebnis einer Projektarbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte er sich differenziert mit der Situation der Wehrmachtsangehörigen auseinandergesetzt.
Gerade sein Aussage „Ich sah die Gräber unschuldig ums Leben gekommener Menschen, unter denen viele in Frieden leben und nicht kämpfen wollten“ wurde in Russland als revisionistisch ausgelegt, als Kollaboration mit dem Feind. Er kollidiert mit seinen Ansichten auch voll mit der aufkeimenden Verherrlichung der Stalin-Zeit und von Stalin selbst. Es ist die Erinnerung an die vermeintliche Größe und eine unbefleckte Rolle Russland bzw. der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg. Dabei wird selbst der Umstand ignoriert, dass der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde durch den Pakt zwischen Hitler und Stalin sich Polen zu teilen.
Das Recht den Wehrdienst zu verweigern gab es nicht, es gab die Sippenhaft. Nicht nur die betreffende Person wurde bestraft, sondern die Familie meist gleich mit. Fahnenflucht und Befehlsverweigerung war ein sicheres Todesurteil, verbunden mit Repressionen für Frauen und Kinder.
Die Lehre des 2. Weltkrieges kann nicht alleine daraus bestehen zu sagen, dass so etwas wie unter den Nazis nie wieder geschehen darf. Sondern auch dass man sich selbst ganz ehrlich fragt, ob man unter den gleichen Bedingungen Widerstand geleistet oder nicht auch mitmarschiert wäre.
Konsequenzen für die Gegenwart
Und um einen weiteren Bogen zur Jetztzeit zu schlagen, genau mit den gleichen Methoden, den gleichen Strukturen hat auch ISIS junge Männer in den Kriegsdienst gepresst. Genauso wie zu Zeiten des Hitler-Regimes oder des Habsburg- und Hohenzollern-Regimes war die Mehrheit der Soldaten kein kriegslüsterner Mob, sondern nur in den Dienst gepresstes Kanonenfutter. Entgegen alle Legenden der Herrschenden waren es eben nicht Hunderttausende Freiwilliger, die sich darum gedrängt haben fürs Vaterland zu sterben.
Sonst hätte es nicht allein bei der Wehrmacht im 2. WK zwischen 20.000 und 30.000 Todesurteile wegen Fahnenflucht gegeben, von denen die meisten vollzogen wurden. Und wie Sippenhaft funktioniert sieht man am aktuellen russischen Beispiel auch. Damit beweisen die russischen Medien und die dahinter stehende Putin-Regierung, dass sie immer noch den Denkmustern des Stalinismus verfallen sind.
Der junge Mann war eben kein braver angepasster Untertan, der seinem Landesherrn nach dem Mund redet.
Es geht weit über den Festakt hinaus
Dabei hat er sich nur dem „Verquirlen“ aller Deutschen in eine nebulöse Kollektivschuld verweigert. Eine Kollektivschuld, die den Blick auf die ursächlich Handelnden versperrt. Auf Männer wie Papen, Hindenburg und Stalin, die der NSDAP Millionen Reichsmark für den Wahlkampf und für die Bezahlung der Partei-Logistik und -SA gaben. Und das macht es heute schwerer die neuen Wegbereiter und Haupttäter des Faschismus zu isolieren und anzuprangern.
Es gibt ein Maß der Schuld und die Haupttäter sind die, die den Stein ins Rollen bringen, die einsamen Rufer für Hass und Ausgrenzung und die, die ihnen dieses Tun ermöglichen. Damals genauso wie heute.
Deutschland ist damals den Organisatoren der NSDAP zum Opfer gefallen. Ein sehr großer Teil der Bevölkerung hat sich aktiv und bewusst entschieden etwas zu tun – nicht nachzudenken. Zusätzlich bei diesem Akt den Anstand und die Menschlichkeit hinten an zu stellen.

Der Führer bei der Ufa. Der Führer und Reichskanzler stattete am 4. Januar in Begleitung des Reichspropagandaministers den Neubabelsberger Ateliers der Ufa einen Besuch ab und nahm dabei Gelegenheit, die Bauten des neuen Films „Barcarole“ zu besichtigen. Generaldirektor Klitzsch führte den Reichskanzler und Minister Dr. Goebbels durch den Betrieb. Viel Interesse fand der soeben von der Ufa auf Anregung von Dr. Todt fertiggestellte Reichsautobahn-Film „Strasse ohne Hindernisse“. UBz: den Führer und Dr. Goebbels während der Besichtigung der Ateliers, links Produktionsleiter Stapenhorst.
Wer genau hinsieht, kann sehen, dass Goebbels in das Foto montiert wurde, Gradation und Lichteinfall/Schatten falsch.
(© Bundesarchiv, Bild 183-1990-1002-500 Foto: o.Ang. / 4. Januar 1935)
„Aber“ das ist nicht alles.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil Deutschlands waren reale Opfer. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten, geistig Beeinträchtigte, Pazifisten, und, und, und … das waren auch Deutsche. Und Opfer. Und die haben der NSDAP nicht die Stange gehalten.
„Aber“ da kommt noch mehr.
Ohne Steigbügelhalter wie Papen, Schleicher, Hindenburg wäre die Veränderung der Mehrheiten, die Ermächtigung und der Untergang der Demokratie nicht möglich gewesen. Nicht gering waren die Möglichkeiten, die Göring 1933 im Januar mit dem Innenministerium in seine Hand bekommen hatte (Gestapo). Daran sollte man bei neuen Sicherheitsgesetzen denken. Was würde ein Nazi damit anfangen. Dazu reicht es in einem Bundesland in eine Regierungskoalition zu kommen.
Am Anfang stand nicht der „Volkswille“ für eine Naziherrschaft. Am Anfang standen Duldung, Tolerierung, Belächeln, ein Sich-lustig-machen über diese braunhemdigen Nazis. Und dann gab es eines Tages einen Innenminister mit Zugriff auf die damalige VDS. Einen Hermann Göring und dann ging es schnell. Dann waren die Voraussetzungen für die vorgezogene Wahl im März 1933 ganz anders.
Und heute werden wieder Listen geführt. Es wird sich angebiedert. Bis man einen neuen Papen hat und der Zugriff auf den Apparat. Und dann gibt es wieder ein Land, das Opfer ist. Und schuldig, weil es es passieren hat lassen. Deshalb kann man das nicht trennen. Deshalb ist „das Land“ Täter und Opfer. Täter nach Außen und gegenüber den Toten und Versehrten – Opfer nach Innen und gegenüber den Handelnden.
Die Welt ist nicht binär
Zu sagen das Land und seine Bevölkerung (ob für oder gegen die Nazis) sei kein Opfer gewesen, heißt den Tätern (allen, auch denen, die zu Opfern wurden) einen Teil der Schuld zu erlassen. Das war ein Regime, das das eigene Volk verraten hat. Nicht das erste und nicht das letzte in der Geschichte der Menschheit. Zu sagen dass Deutschland oder „die Deutschen“ nur Opfer oder nur Täter seien, das wird dem Geschehen nicht gerecht.
Einerseits ist Blödheit und Schlichtheit keine Entschuldigung oder gar Rechtfertigung. Andererseits war das Regime eine betrügerische Bande. Eine Bande, die auf Lügen, Bestechung und organisierter Kriminalität und ausländischen Finanzhilfen aufgebaut war. Die Mitschuldigen endlich zur Verantwortung zu ziehen heißt nicht das Maß der Schuld zu relativieren. Das Grauen und das Verbrechen ist so groß, das entzieht sich dem. Der Holocaust bleibt der Holocaust.
Unsere Aufgabe heute
Wir können der Wiederholung besser entgegenwirken, wenn wir alle Schuldigen von damals benennen. Alle Opfer. Damit deutlich wird, wie fließend die Übergänge sind, viele beides geworden sind und dass genau das wieder passieren kann. Dass es die Reaktion und nicht die Revolution ist, die ihre Kinder frisst. Dass Hitler und die Nazis die Volksverräter waren. Dass die neuen Nazis genauso Volksverräter sind. Weil das eigene Volk nicht nur Täter, sondern auch Opfer war.
Deshalb sind so viele Stellungnahmen wie von Walser nur halbe Wahrheiten und halbe Lügen, nicht mal Halbwahrheiten. Da gibt es keinen neutralen Rest der keine Wahrheit aber auch keine Lüge ist.
Und auch Kanonenfutter zu sein macht jemand zum Opfer, auch wenn er Täter ist. Derjenige, der beim Banküberfall den Wachmann erschießt und dann von seinen Mittätern erschossen wird, weil es Streit über die Beute gibt, der ist auch Täter und Opfer. Und keiner käme auf die Idee zu sagen, er wäre weniger Mörder, weil er selbst ermordet wurde. Das „Täter sein“ wird nie durch eine gleichzeitige Opferrolle gemindert.
Wohin das führt
Diese uneingeschränkte Sicht könnte potentiellen Nazis bewusster machen, dass Faschismus eine starke suizidale bzw. selbstzerstörerische Komponente hat. Dass diese politische Strömung sehr viel von Borderline-Störung hat. Dass sie Hilfe brauchen. Nicht den kollektiven Rausch der Gefühle, der in die Selbstverletzung führt.
Wie Walser argumentiert ist Reflektion, Ablenkung der Schuld, Entschuld(ig)ung – das ist erbärmlich und verkörpert die Verantwortungslosigkeit einer Generation. Seiner Generation. Der junge Russe reflektiert dabei differenzierter. Wägt ab, zeigt die Zerrissenheit auf. Lässt die Welt in ihrer Komplexität sichtbar werden.
Umgekehrt aber vielen Opfern ihr Deutschsein abzusprechen gibt am Ende den Rassisten recht, die genau dies als Begründung für ihre Morde hatten. Erst das Deutschsein nehmen und damit dann auch das Menschsein, das Leben. Diese Opfer waren keine „Undeutschen“ oder „Nichtmenschen“. Sie waren Menschen und deutsche Bürger, und jeder deutsche Bürger ist Deutscher.
Wer etwas anderes behauptet ist ein Nazi oder stimmt ihren kruden Thesen zu oder liefert die Legitimation.
Linkhinweise
- Faschismusvorwurf: Russland empört sich über Schülerrede im Bundestag – SPIEGEL ONLINE – Leben und Lernen
- Martin Walser 2017: Deutschland war Hitlers erstes Opfer