Vor etwas über einem halben Jahr ist er gestorben, damals hatte ich mich in einem kurzen Nachruf kritisch zu ihm geäußert und seine Haltung als reaktionär und von vorgestrigen Motiven bestimmt abqualifiziert. Das hat mir heftige Kritik eingetragen, die ich damals nicht direkt erwidert hatte, weil mir der konkrete Beleg fehlte und ich mich nur aus meiner Erinnerung heraus derart geäußert habe.

Beim Neuordnen meines Papierarchivs bin ich zufällig auf einen Text gestoßen, das ZEIT MAGAZIN vom 9. Januar 2014. Hier gibt Schmidt seinem Kollegen Giovanni di Lorenzo ein Interview, um das er diesen oder die Redaktion gebeten hatte, nachdem er sich über einen Artikel geärgert hatte. Dieser Artikel hatte sich kritisch mit Außenminister Steinmeier auseinandergesetzt, „weil er gegenüber autoritären Regimen zu freundlich sei“. Schmidt verweist auch auf seine beschränkte Zeit, die ihm noch verbleibt: „Das sind alles Abschiedsreisen eines alten Mannes, der davon ausgeht, dass er bald stirbt.“ Damit wird dieses Interview zum Teil dieses Abschieds, zu einem politischen Vermächtnis bezüglich des politischen Umgangs mit Menschenrechten in der Außenpolitik.

Es geht um die Menschenrechte.

Und im Laufe des Interviews fallen zwei Sätze, die für mich den Politiker und Mensch Helmut Schmidt ins moralische Abseits stellen.

Im ersten Satz bestimmt er seinen Standpunkt, wenn es um die Rolle der Menschenrechte in der Außenpolitik geht: „Wenn ich das Thema mit einem Politiker eines anderen Landes erörtern wollte, dann täte ich das jedenfalls nicht öffentlich.“

Und der zweite entscheidende Satz nimmt darauf Bezug: „Ich gebe zu, dass es einen Punkt gibt, an dem ich meinen Standpunkt wahrscheinlich nicht mehr aufrechterhalten könnte: wenn jemand anfängt, die Angehörigen des Nachbarvolkes oder seines eigenen Volks umzubringen, und wenn dabei ein gewisses Maß überschritten wird.“

Das muss man erst Mal setzen lassen –  wenn ein gewisses Maß überschritten wird.

Ein bisschen darf man also Leute umbringen und zu bemängeln ist das auch nur, wenn sie eine bestimmte Volkszugehörigkeit haben. Nach Auffassung von Helmut Schmidt. Ich will gar nicht hypothetisch fragen wie viel „ein bisschen“ ist, ob das in China Zehntausend sind und in einem kleineren Land nur Hundert. Er kann diese Frage nicht mehr beantworten. Muss er auch nicht.

Jegliches Bemessen der Gräuel ist ein Graus.

Jedes einzelne Opfer ist zuviel, ist Blut an den Händen des Regierenden. Und wie ist es, wenn es Angehörige anderer Völker sind? Fremde, ferne Völker, Migranten im eigenen Land aus diesen Völkern? Das darf man dann gar nicht ansprechen?

Allein schon die Idee der „Volkszugehörigkeit“, die aus der Floskel „Angehörige des Nachbarvolkes“ spricht, ist ein Gedankenbild des 19. frühen 20. Jahrhunderts, etwas, das in unserer aktuellen Erkenntnis über die Menschheit und ihre Herkunft und Verteilung auf diesem Planeten bereits ad absurdum geführt wurde.

Wo steht man mit einer solchen Sichtweise? Mit einem derartigen Denken? Das ist die Schublade mit den Politikern, für die der Zweck die Mittel heiligt. Für die Menschenrechte teilbar sind, bemessen, abwägbar. In denen es eine Rationierung und Zuteilung der Menschenrechte geht.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es deshalb nicht umsonst:

Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.

Und die Präambel hebt hervor, dass damit jeder einzelne Mensch gemeint ist, nicht nur eine Gruppe, deren Größe „ein gewisses Maß“ überschreitet.

Helmut Schmidt identifizierte sich nicht mit den Prinzipien der Menschenrechtserklärung, nicht mit den Grundfesten unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Damit stellt er die Motivation aller seiner Aussagen und seines politischen Handelns in einen Kontext, der unzählige Fragen und Zweifel aufwirft.

War diese Maxime, dieser Standpunkt, auch in seinen Entscheidungen und seiner Regierungspolitik präsent? Wie viel war bei ihm „ein bisschen“, wo spielte für ihn die „Angehörigkeit zu einem Volk“ eine Rolle?

Wie „völkisch“ war er? Wie stark war er „Relativist“? An seinem Lebensende war er es jedenfalls unerträglich viel.

Und ich frage mich, in wie weit bestimmt eine derartige Haltung unterschwellig oder direkt die politische Landschaft Deutschlands? War sie über einen prominenten Politiker wie Helmut Schmidt ungebrochen auch nach 1945 noch Teil der deutschen Politik und der gesellschaftlichen Meinungsbildung? Wie weit hat dies den Boden fruchtbar gehalten, aus dem die neuen Nazis, die Rassisten und Völkischen, die Relativierer und Utilitaristen empor wuchsen? Ist die Verklärung des Elder Statesman Schmidt ein Fehler der deutschen Gesellschaft gewesen?

Dass ein Vertreter der gleichen Denkschule, Henry Kissinger, die Trauerrede für ihn hielt ist dann auch verständlich.

Ich bin kein Anhänger der Deontologie oder der Tugendethik. Die Absicht und die Motive heiligen ebenfalls nicht die Mittel. Es ist allein der Mensch, dessen Würde und Lebensrecht, an denen die Handlungen zu messen sind. Die Menschenrechte sind unteilbar, stehen jedem einzelnen Mensch gleichermaßen zu, ohne jede Abwägung. Für Unrecht am Menschen gibt es keine Rechtfertigung. Die Menschenrechte gelten für Erika und Max Mustermanns genauso, wie für die Adolf Hitlers und Martin Luther Kings dieser Welt.