Es geht hier nicht um ein religiöses Thema, um Kreationismus gegen Evolution, sondern um etwas viel irdischeres und aktuelleres. Der EU-Kommissar für Verbraucherschutz will eine Saatgutverordnung für ganz Europa installieren, die nicht die vorhandene Praxis vereinheitlicht, sondern komplett ersetzt und die Möglichkeiten für kleinere Züchter und Bauern ihr eigenes Saat- und Pflanzgut zu erzeugen, zu tauschen oder zu vertreiben drastisch beschneidet. 

Zukünftig darf nur noch Saat- und Pflanzgut gewerblich gehandelt werden, welches ein aufwendiges amtliches Zulassungsverfahren bestanden hat und Normen erfüllt, die augenscheinlich von den Lobbyorganisationen zusammengestellt wurden (siehe Teilnehmerliste). Mit diesem Regulierungskonzept wird die Vielfalt und Bandbreite der Feldfrüchte und der Aromen eingeschränkt.

Die aus dem Saatgut wachsenden Pflanzen und ihre Früchte müssen innerhalb eines eng definierten Merkmalsraster liegen und dürfen nur geringe Abweichungen zeigen. Gerade die natürlichen Unterschiede, spontane Mutationen und Variationen, die zum Prinzip der Evolution gehören, sowie Züchtungen aus kleinbäuerlichen Strukturen, werden zur unzulässigen Normabweichung und dürfen ohne Zulassung nicht in den Verkehr gebracht werden. Prinzipiell wird den Obst- und Gemüsebauern damit die Teilhabe an der Evolution untersagt.

Das Titelbild zeigt die alte Apfelsorte „Prinz Albrecht von Preußen“, die nie eine Zulassung bekam. Wer würde heute für eine Zulassung bezahlen?

Das Ergebnis dieser Einschränkung ist ein Rückgang der Biodiversität, alte Arten verschwinden durch den Anpassungsdruck und werden durch Handelshemmnisse in die privaten Gärten verbannt, der kommerzielle Anbau und die Möglichkeit die Pflanzen oder ihre Früchte im Handel zu erwerben wird verhindert. 

Die bestehende und bereits bedrohte Vielfalt ist akut gefährdet, wenn kleinere Züchter Aufwand und Kosten der Zulassung nicht stemmen können und auch nicht an ihre Abnehmer durchreichen können. Seltene Sorten, von denen nur wenige Setzlinge im Jahr erzeugt werden sind damit extrem gefährdet. 

Für die Großserien der industriellen Saatgutzüchter bedeutet es keinen Mehraufwand, diese wenden im Rahmen des Sortenschutzes und der Produktpatente den größten Teil der Prüfungs- und Zulassungsschritte bereits bisher auf. Deren Hybridsamen, die nicht eigenständig vermehrbar sind, erfüllen auch gleichzeitig den Anspruch auf eng definierte Produktmerkmale und Abwesenheit von Vielfalt beim gewachsenen Endprodukt.

Das Prinzip und die Absicht hinter der Richtlinie begünstigt damit die großindustriellen Erzeuger und errichtet vor kleinen Züchtern mit Nischen-Pflanzen unüberwindliche Hürden. Ob gewollt oder nicht, das Ergebnis geht in diese Richtung. Campact hat eine Unterschriften-Aktion und Petition zum Thema „Saatgut-Vielfalt schützen und fördern!“ gestartet und innerhalb weniger Stunden die ersten 50.000 Unterschriften eingesammelt und bis zum nächsten Tag die 100.000 überschritten.

Arche Noah und Global 2000 haben für Österreich ebenfalls eine derartige Unterschriften-Kampagne aufgelegt und schon über 150.000 Petenten gewonnen. Hier der Link zu den Petitionen: campact.de – Saatgutvielfalt (Deutschland) oder Global 2000 (Österreich).

Wild-Tomate aus Ecuador – das ungeprüfte Original

Zur Vernebelung wurden darauf an verschiedenen Stellen in den sozialen Netzwerken Mitteilungen gestreut, die sogar behaupteten man wolle in privaten Gärten den Einsatz nicht zugelassenen Saatguts verbieten. Aber im nicht gewerblichen bzw. nicht professionellen Bereich soll diese Verordnung gar nicht gelten. Aber sie würde selbstverständlich auch für gewerbliche Saatguthändler, Garten- und Pflanzenmärkte und Internetshops gelten, die Saatgut an Hobby-Gärtner verkaufen.

Selbst das Anbieten von mehr als drei Samentütchen auf eBay pro Monat würde unter diese Regelung fallen, da hier die Regelmäßigkeit und damit die Gewerbsmäßigkeit gegeben wäre. Nur unentgeltliche Liebhaberei und Tauschen ohne Auslagenersatz wären noch möglich. Und auch dies nur bei Kleinmengen von wenigen Gramm oder einzelnen Pflanzen. Wie ein kleiner Veredler, der nur eine Handvoll seltener Obstsorten pro Jahr anbietet diese zulassen soll bleibt offen.

Gleiches gilt für den Nebenerwerbsvermehrer von seltenen Tomatensorten, der bisher seine Tütchen mit 10 Samenkörnern über eBay angeboten hat. Die Unterschriftensammlung für die Petition in Österreich wurde von Nikolaus Berlakovich, dem Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft in Österreich mit unterzeichnet. Noch gibt es keine offizielle Absage der Pläne aus Brüssel und noch ist der vorgesehene Termin nicht verstrichen. Beschwichtigende Aussagen in verschiedenen Medien, beispielsweise von Niedersachsens Agrarminister Meyer, sind nur deren persönliche Einschätzungen und keine Fakten.

Auch nicht wenn sie sich auf Aussagen des EU-Agrarkommissars berufen, der für diese Verordnung nicht zuständig ist. Zumindest gibt es bis zu der Veröffentlichung dieses Beitrags kein entsprechendes Statement der EU-Kommission für Verbraucherschutz, die ein Einschränken des Entwurfs ankündigt. Ankündigungen des Agrarressorts sind das Papier nicht wert auf dem sie stehen und haben einen Richtlinienentwurf der Agrargroßindustrie hinter sich.

Hoffen wir, dass die Petitionen bewirken, dass sich diese Ankündigungen und Hoffnungen verwirklichen und die Einschränkungen nicht realisiert werden.

Link-Hinweise zu Informationen der Europäischen Kommission (EC) und des Europa-Parlaments (EU):

Link-Hinweise zu Presseberichten:

Link-Hinweise zu Personen und Institutionen:

Link-Liste der deutschen Teilnehmer am Anhörungsprozess mit den Antworten zum Fragebogen bzgl. der Richtlinienänderung:

Update 2021-07-03: Die Dokumente wurden gelöscht oder verlagert, ich versuche neue Links zu finden.

  1. Arbeitsgemeinschaft der Anerkennungsstellen (Cache-Fassung)
  2. ARGE Streuobst – Österreichische Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des Streuobstbaues und zur Erhaltung obstgenetischer Ressourcen (Update Link 23.3.2022)
  3. Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft (Update Link 23.3.2022)
  4. Bingenheimer Saatgut AG (Update Link 23.3.2022)
  5. Bundesverband Deutscher Saatguterzeuger e.V. (Update Link 23.3.2022)
  6. Landesbetrieb Landwirtschaft Hessen
  7. Landwirtschaftskammer Niedersachsen
  8. Der Direktor der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen (Update Link 23.3.2022)
  9. Landwirtschaftskammer Österreich
  10. Sächsisches Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und Geologie
  11. Verein Arche Noah, Austrian Seed Savers Association (Update Link 23.3.2022)
  12. VERN e.V. (Verein zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen in Brandenburg)
  13. Wirtschaftliche Vereinigung Zucker – WVZ (Update Link 23.3.2022)

und nicht zu vergessen die Stellungnahme von folgenden anderen Teilnehmern

Update (02.05.2013) – Ergänzung der Links um EC/EU-Dokumente und die Stellungnahmen der deutschen Teilnehmer an der Anhörung. In der Richtlinie geht es neben Saatgut auch um Pflanzgut, also Setzlinge und Trieblinge, deshalb betrifft die Angelegenheit auch seltenes Streuobst und Beerensträucher. Der Text wurde entsprechend ergänzt. Die Hinweise über den Konflikt zwischen Agrar- und Verbraucherkommissar wurden ebenfalls ergänzt.