Es war der Mittwoch vor dem Vatertag, als der SPD-Vorsitzende Gabriel einen Angriff auf eine Ikone Deutschlands unternahm. Am Jahrestag der Befreiung Europas von Nationalsozialismus und Faschismus verkündete er, dass das Wahlziel der Grünen, ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen einzuführen, auch eines der Wahlziele der SPD darstellen könnte und seine Unterstützung findet.

Inzwischen wissen wir, dass das anscheinend doch keine so gute Idee war, das mit dem Ankündigen. Der SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück hat diese Erklärung umgehend wieder eingesammelt. Auch Gabriel macht einen Rückzieher. Eine Debatte hat der Vorgang trotzdem ausgelöst. Eine Debatte um das völlig falsche Thema, um das Tempolimit.

Dabei gab es an dem Ereignis mehrere Ansatzpunkte für wesentlich wichtigere Diskussionen. Als ersten Punkt, ob die Politik sich dem Primat des Populismus hingeben muss. Ob sie ihr Fähnchen immer, auch testweise, in den Wind hängen muss. Wenn eine Idee gut ist, muss man für sie einstehen, wenn nicht, braucht man sie gar nicht zu verbreiten. Und ob sie das ist sollte man sich vorher überlegen, nicht wenn einem der Wind ins Gesicht bläst. Und daraus ergibt sich der zweite und wichtigste Diskussionsanlass, die mangelnde professionelle Herangehensweise in der politischen Entscheidungsfindung.

Situation im Land

Gerade dieser Vorschlag zeigt das vorherrschende Prinzip Trial-and-Error, sogar bei den ersten Schritten einer neuen Idee, wobei da als Error eine gegenläufige öffentliche Meinung bis hin zum Shitstorm gilt und als Erfolg in Ansteigen der Quote in den Umfragen.

Damit werden Entscheidungen von Stimmungs- und Meinungslagen abhängig gemacht. Es gilt das Primat der Claquere und Buhrufer, statt Sachentscheidung, Nachdenken, Prüfen, kurz Fakten-Check. Wie sähe denn so etwas aus, ein Faktencheck beim Tempolimit?

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Es müssten mögliche Auswirkungen ermittelt werden, dann welches Ausmaß und welche Interaktion mit anderen Bereichen bewirkt werden. Dahinter immer der Gedanke, wie wirkt es sich auf die Zahlen der Unfallopfer aus, mehr oder weniger Verletzte und Getötete. Welche Auswirkungen hat es auf die Umwelt und schlussendlich, was kostet es. Worauf müssen wir verzichten oder wofür wird Geld freigesetzt. Zentral ist, dass derartige Entscheidungsprozesse ergebnisoffen sind, nicht in der Absicht bestimmte Beschlüsse zu rechtfertigen, sondern Grundlage für Beschlüsse zu bilden. Ein Fundament aus Fakten, keine Kulisse aus selektiver Wahrnehmung.

Wie sieht das aus, sorgt ein Tempolimit für flüssigen Verkehr oder für Staus? Gleich vorweg, belastbare Aussagen dazu gibt es noch keine. Ein Teil der Theorien dazu basieren auf abstrakten Zuständen. Solchen bei denen der Verkehr der reinen Mathematik und der Mechanik bewegter Teile folgt. Andere bauen auf Annahmen, einer unwissenschaftlichen Form der Parameter-Auswahl. Eine Technik, die dem mittelalterlichen Muten entspricht. Der Praxis der Wünschelrutengänger, die nach Wasseradern suchen. Oder der Vorhersage der Auguren für den Ausgang einer Schlacht.

To scry or not to scry – not a real question?

Dabei spielten zwar Beobachtungen eine Rolle und Feuchtwiesenpflanzen waren und sind ein Hinweis auf eine versteckte Quelle. Der Lärm eines Feldlagers gab Auskunft über dessen Größe und Mannstärke. Aber ob die Wiese ein mooriges Schlammloch verbarg oder eine Felsenquelle, der Lärm eine Horde besoffener Landsknechte oder ein gut ausgebildeter Trupp von Lanzenreitern war, das überschritt die Grenzen des Muten. So wie es heute der tatsächliche Verkehr bei den Grundannahmen der Studien und Prognosen macht.

Da gibt es die Beeinflussung der Kapazität. Wie wirkt sich die Reduzierung der Durchschnittsgeschwindigkeit auf die Durchleitungskapazität eines Streckenanschnitts aus? Man weiß, dass es im Falle des Erreichens einer  Grenzkapazität zur Überlastung kommt. Zu einem Reduzieren der Abstände mit nachfolgendem weiteren Geschwindigkeitsabbau. Zu weiterem Kapazitätsverlust, bis hin zum Stillstand. Hier ist zusammen mit der Reduzierung des Tempos auch ein entsprechender Streckenausbau nötig. Umgekehrt gehen die idealen Modelle davon aus, dass es eine Grenzkapazität gibt. Und dass diese auf dem größer werden Sicherheitsabstands bei hohem Tempo beruht. In diesem Zusammenhang wird ein Abflachen des Kapazitätsverlaufs ab 100 km/h prognostiziert.

Mehrdimensionale Effekte berücksichtigen

Gleichzeitig beklagt die Polizei, dass Schnellfahrer überproportional oft den nötigen Sicherheitsabstand vermissen lassen. Die Realität liefert damit nicht die Voraussetzungen, die als Annahmen zu den Prognosen führten. Des weiteren berücksichtigen diese Rechenmodell in fast allen Fällen nicht die Eigenlänge der Fahrzeuge, die als fixe Grundgröße in die Rechnung einfließt und mit zunehmend Tempo an Relevanz verliert, weswegen Geschwindigkeitsveränderungen umso stärker ins Gewicht fallen.

Sie berücksichtigen auch nicht, dass es Streckenbereiche gibt, auf denen Tempo 130 gilt, dieses leicht überschritten wird und die Kapazitätsgrenze zu manchen Tageszeiten überschritten wird. Zu anderen Tageszeiten liegt die Fahrzeugfrequenz gerade noch unter der Schwelle, würde ein Limit auf einem derartigen Streckenabschnitt den Dauerstau auslösen, einen neuen Bereich wie den berüchtigten Kölner Ring? Hierzu wurde weder vor, während oder gar nach Diskussionen zu Tempolimits Aussagen getroffen.

Bringschuld des Staates

Und das ist kein Wunder, entsprechende Daten sind anscheinend nicht verfügbar. Statistiken über die Auslastung gibt es zwar in den Berichten der Straßenverkehrsämter, der so genannten Straßenverkehrszählung, aber diese sind relativ grob aufgelöst und treffen keine Aussage über die Relation von tatsächlichem Verkehr zu möglichem Verkehr, über gefahrene Geschwindigkeiten oder Anzahl der Staus und von zähfließendem Verkehr. Möglicherweise gibt es diese Daten, kommuniziert werden sie nicht. Eine Simulation der Auswirkungen eines Tempolimits auf die Kapazität und den Verkehrsfluss kann man so nicht vornehmen, mithin keine Prognose oder Aussage über die Folgen treffen.

Damit werden auch Prognosen über die Verbrauchsänderung und die ökologische Wirkung hinfällig. Zwar sind durch moderates Tempo gegenüber schnellem Fahren Einsparungen von rund 50% möglich, aber sollte sich zähfließender Verkehr oder gar Staus bilden, wird der Effekt konterkariert, es kommt zu einem Verbrauchsanstieg. Dazu kommt noch, dass moderne Fahrzeuge mit Klimaanlage inzwischen 10-20% des Verbauchs nicht geschwindigkeitsabhängig erzeugen, sondern als fixen Verbrauch pro Stunde haben. Auch hier weder ein linearer, noch ein progressiver Effekt, sondern ein komplexes und dynamisches Netzwerk von Abhängigkeiten, für das man eine Vielzahl von Informationen und an Daten braucht um eine Aussage treffen zu können.  

Im Zusammenhang mit dem Verbrauch muss man auch beachten, dass durch den Zeitverlust es dazu kommen kann, dass beruflich bedingte Fahrten nicht mehr innerhalb des zulässigen täglichen Arbeitszeit-Limits erledigt werden können und dann statt einem sogar zwei Fahrzeuge unterwegs sein müssen. Bei diesen Verkehrsteilnehmern ist man dann in einem Bereich, der durch kein Tempolimit der Welt kompensiert werden kann. Weitere Begrenzungen würden direkt in noch mehr Fahrern und Fahrzeugen resultieren. Dann hätte man durch ein Tempolimit einen Mehrverbrauch. Auch hier gibt es keine öffentlichen Daten über Art , Umfang und Fahrverhalten dieser Verkehrsteilnehmergruppe. 

Entscheidungskriterien

Dass diese Gruppe nicht unbeachtlich sein kann ergibt sich schon aus dem Umstand, dass die Zeiten in denen Menschen „Spazierfahrten“ unternahmen schon lange vorbei sind und ich bezweifle, dass die je auf Autobahnen stattgefunden haben und sich dann noch von Tempolimits beeinflussen ließen. 

Wenn wir den Spritverbrauch als Kriterium nehmen kommen wir zu mehreren Eingriffsgrößen. Der Staat muss zuerst den Verkauf von Kraftstoffen auf Diesel eingrenzen. Danach Motoren ohne verbrauchsoptimierende Maßnahmen, wie Direkteinspritzung, kurzfristig von der Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen. Er muss den Verbrauch eines Diesel-Hybrids bei Tempo 120 als Messlatte anlegen. Jedes Fahrzeug, das mehr verbraucht, muss die Zulassung verlieren. Und bei den Fahrzeugen mit Mehrverbrauch, muss bei bestimmten Fahrsituationen eine fest eingestellte Geschwindigkeitskontrolle verordnet werden, um Mehrverbrauch zu unterbinden. 

Bei einer kurzen Sichtung von mehreren marktführenden Modellen habe ich gerade festgestellt, dass alle im Stadtverkehr einen höheren Verbrauch haben als mein Fahrzeug (Citroen C1) bei 120 km/h und auch bei 160 km/h (schneller fährt es nicht), man müsste dann konsequenterweise auch über 90% der Fahrzeuge vom innerörtlichen Verkehr verbannen. Diese haben einen eklatant höheren Verbrauch verglichen mit Tempolimit 120 und im Gegensatz zum Autobahnverkehr könnte man innerstädtisch sogar ausweichen und das Fahrrad nutzen oder zu Fuß gehen und das ohne soziale Benachteiligungen zu provozieren.  

Optimierung als Beginn, nicht als Ende

Denn die wirtschaftlichen Verhältnisse spielen eine Rolle. Statt die Autobahn zu nutzen, mit der Bahn zu fahren oder innerdeutsch zu fliegen, das kann sich nicht jeder leisten und das Fernbusnetz ist noch sehr beschränkt und bietet auf den wenigen Strecken meist nur ein oder zwei Abfahrtstermine am Morgen. Deshalb sind derartige Initiativen und Ansätze Kraftstoff zu sparen zutiefst unsozial, da sie gerade einkommensschwache Schichten treffen, die keine Alternativen haben. Wer nicht weiß was ich meine, der kann ja gerne auf bahn.de nachsehen was für eine vierköpfige Familie ein Bahnticket mit dem ICE von Karlsruhe nach Berlin und zurück kostet. Oder ein Pendlerticket Mannheim-Frankfurt mit dem Sprinter. 

In diesem Zusammenhang müsste man dann zuerst über das Mitführen von Ersatzrädern und -teilen reden, den Einbau und Betrieb von Klimaanlagen und Standheizungen in Kfz, sowie von anderen dauerhaft gewichtserhöhenden Einbauten. Wäre statt Klimaanlagen die Privilegierung öffentlichen Nudismus eine Alternative, statt Standheizungen warme Kleidung? Wie ist es mit der Pflicht zur Verwendung eines Navigationsgerätes um Umwege und Falschfahrten zu verhindern?

Salamitaktik – Weg zum Erfolg

Eine generelle Verkleinerung der Tankgröße würde ebenfalls das Gewicht und den Verbrauch mindern, maximaler Rollwiderstand bei Reifen wäre noch gesetzlich zu regeln einschließlich eines Fahrverbots mit Winterreifen an trockenen Tagen. All das verursacht mehr Mehrverbrauch als ein fehlendes Tempolimit, denn es betrifft 100% der Verkehrsteilnehmer  auf allen Straßen und nicht nur eine Randgruppe auf der Autobahn.  

Das soll jetzt kein Plädoyer gegen ein Tempolimit sein, kein Argument für freie Fahrt. Aber auch nicht das Gegenteil. Ich möchte nur aufzeigen, dass es eine Vielzahl ungeklärter oder nicht öffentlicher Fakten gibt. Dass man auf dieser Basis weder ernsthaft dafür noch ernsthaft dagegen sein kann. Man kann sich emotional und aus eigensüchtigem Hedonismus die Möglichkeit der HighSpeed-Nutzung von Autobahnen wünschen. Man kann sich genauso emotional eine sture Askese zu Gunsten der Umwelt herbeiwünschen. Ob und welche Entscheidung uns tatsächlich weiterbringt ist jedoch ungewiss. 

Und was macht @laemmerbiss? 

Persönlich fahre ich, wie bereits erwähnt, eines der verbrauchsärmsten Benzin-Modelle am Markt und werde danach auf einen noch verbrauchsärmeren Diesel umsteigen. Ich fahre auch nicht schnell und finde pures Rasen auf öffentlichen Straßen ist ein Zeichen schlechten Zeitmanagements oder des Geizes sich ein Ticket auf einer öffentlichen Rennstrecke zu lösen und dort dann richtig die Sau rauszulassen. Aber hauptsächlich  habe ich etwas gegen politische Initiativen und Entscheidungen, die Probleme unfundiert angehen und inkonsequent sind.  

Denn den kritischsten Bereich habe ich noch gar nicht angesprochen. Geht es um Verletzte und Tote ist unklar ob das Limit die Situation verbessert oder sogar verschlimmert. Führt die Tempolimitierung zu mehr Staus und verdichtetem Verkehr, würde sie automatisch zu mehr Toten und Verletzten führen. Dazu gibt es Statistiken und Studien, die den Anteil der Verkehrsopfer nach Verkehrssituationen auflisten. 

Ökonomie der Ökologie

Daneben ist zusätzlich unbekannt welche Kosten es insgesamt verursacht oder einspart. Bei niedrigerem Tempo könnten die Fahrspuren verengt werden, das könnte die Kosten senken, in letzter Konsequenz sind das dann mehrspurige und kreuzungsfreie Landstraßen. Das Tempo zu limitieren für den Preis von Toten, Verletzten und mehr zugebauter Landschaft wäre noch nicht einmal ein Pyrrhus-Sieg, es wäre ein katastrophales Scheitern. Nach nicht vorhandener Faktenlage kann man es eben auch nicht ausschließen, aber die Versuche mit Tempo 100 vor einem Vierteljahrhundert haben nur marginale Einsparungen zusammen mit einem Anstieg der Unfälle gezeigt. Hauptsächlich durch den Rückgang der Aufmerksamkeit der Fahrer.

Dienstwagen-mit-Fahrer-Nutzer, Bahncard-100-Inhaber und Helikopter-Service-Nutzer wie die Spitzenpolitiker haben damit allerdings keine persönlichen Erfahrungen. Da lässt man sich halt einen kleinen Snack servieren, telefoniert und arbeitet unbeeinflusst vom Verkehrsgeschehen. Und kommt auf die Idee ein Tempolimit zu begrüßen.  

Man zerrt einen Mythos auf die Schlachtbank, ohne zu wissen was man da zerlegt – Pferd oder Rind oder gar eine Katze? Die Politik, in diesem Fall der SPD-Vorsitzende, handelt wie ein blinder Metzger. Das wäre einer Diskussion würdig, vielleicht werden dann auch die Voraussetzungen für eine Tempolimit-Diskussion geschaffen. Dann könnte sich die Bevölkerung auch mit einem eventuell noch rigideren Limit anfreunden, wenn der Sinn deutlich klar würde. Oder die Politik müsste vorrangig andere Reglementierungen treffen und das Limit und die Richtgeschwindigkeit sogar anheben.

Wer weiß das schon? Die Politik nicht. Noch nicht.

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