Soll die SPD Sarrazin aus der Partei werfen, weil er ein Buch geschrieben hat? Wäre sein Buch eine Rechtfertigung für diesen Schritt? Oder sollte sich die SPD nur intensiv mit dem Werk auseinandersetzen?

Schön wäre es, wäre das Buch tatsächlich ein Sachbuch, würde der Herr Sarrazin tatsächlich Thesen präsentieren, dann könnte man einen wissenschaftliche Diskurs eröffnen und ihn widerlegen.

So formuliert sein Buch nur Wahrheiten und Zustandsbeschreibungen, erhebt sich selbsterklärt über den Anspruch Thesen zu präsentieren und zieht Schlüsse und ergeht sich im letzten Teil in einer novellenhaften Phantasmagorie. Wissenschaft geht anders. Sachbuch auch.

Wenn man Herrn Sarrazins Ausführungen im Buch umformuliert und sie zu Thesen machen würde, dann könnte man sie als solche sogar stehen lassen. Als Thesen, mehr nicht. Dann wäre es gut, man könnte sagen, lasst ihn doch, ist ja alles hypothetisch und nur ein Gedankenkonstrukt. Darf er, kein Problem. Darf jeder, es gibt ja keine Denkverbote.

So ist es aber nicht. Er fängt sein Buch mit der Schilderung historischer Fakten an, fügt allgemein akzeptierte Sichtweisen antiker Kulturen hinzu und geht dann in die Beschreibung der Gegenwart über. Das ist ein dialektischer Kniff von besonderer Perfidie. Er führt beim unbedarften Leser zu einer Übertragung der Akzeptanz der historischen Fakten auf die Sarrazin’sche Sichtweise der aktuelle Situation. Das ist intellektuelle Hütchenspielerei. Der Leser findet unter dem gewählten Hütchen sogar eine Kugel, freut sich, glaubt Herrn Sarrazin, übersieht aber, dass es keine dunkelrote Kugel mehr ist, sondern diesmal eine braune. (Farbenwahl kein Zufall)

Polemik, Polemik, Polemik

Oder er setzt einem Kapital den Spruch „Something is rotten in the state of Denmark“ aus Hamlet voraus. Ebenfalls billige Polemik. Und Herr Sarrazin scheint zu vergessen wer diesen Spruch und in welchem Zusammenhang äußert. In unserer Realität erscheint eher Herr Sarrazin als Geist der vorvergangenen Zeit, der Hamlet, der Verkörperung des lebendigen Staat, die Richtung vorgeben will. Und der schlichte Wächter Marcellus kommentiert die Entscheidung Hamlets, diesem anrüchigen Geist zu folgen, mit dem berühmten Zitat. Faul im Staate Dänemark sind die angestaubten Ideen der Vorgeneration in Form des Geistes. Sarrazin’s Ungeist.

Formulieren wir versuchsweise eine der zentralen Aussagen Sarrazins zur These um: „Nationale Identität und gesellschaftliche Stabilität bedürfen einer gewissen Homogenität in Werthaltungen und akzeptierten kulturellen Überlieferungen“ aus dem Absatz „Weshalb Einwanderung für Deutschland keine Lösung ist“.

Diese zentrale Aussage lässt sich als These in mehreren Aspekte widerlegen.

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen nationaler Identität und gesellschaftlicher Stabilität, dies sind voneinander unabhängige Aspekte. Die größte gesellschaftliche Stabilität oder Stagnation herrschte in Zeiten, als es noch keine nationale Identität gab. Setzt man hier einen Zusammenhang, negiert man automatisch die nachfolgende Aussage. Der einzige historisch belegbare Zusammenhang ist der Gegensatz dieser Zustände. Bismarck hat die Schaffung der nationale Identität als politisches Instrument benutzt um die Gesellschaft in einen dramatischen Veränderungsprozess zu führen und die überkommenen Strukturen und Verhaltensweisen zu überwinden.

Die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft beständig verändert und flexibel zeigt, hat bewirkt dass sie die Herausforderungen der Industrialisierung, der Postmoderne, des IT-Zeitalters und der Globalisierung erfolgreich annehmen konnte. Sarrazin verwechselt hier Balance und Gleichgewicht mit Stabilität. Stabilität ist nicht die Abwesenheit von Veränderung.

Auch der Terminus „Homogenität der Werthaltungen“ ist eine aberwitzige Worthülse, es gibt kein Individuum, geschweige denn irgendeine menschliche Gesellschaft auf diesem Planeten, bei demjenigen man eine homogene Werthaltung finden könnte. Derartiges findet sich allenfalls in Ameisenvölkern, Bienenstöcken und anderen Kulturen ohne Intelligenz und Individualismus. Es ist gerade die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Werthaltungen, die den Mensch vom Tier, vom instinktgesteuerten Triebautomaten unterscheidet.

Ignoranz, Arroganz, clevere Vermarktung?

Der Gipfel der Ignoranz und Arroganz ist die Formulierung „akzeptierte kulturelle Überlieferungen“. Von wem akzeptiert, von Herrn Sarrazin? Von der Bäckerinnung Wuppertal? (Sorry, meine Herren und Damen) Und was meint er mit Überlieferungen? Mittelhochdeutsche Epen? Oder germanische Traditionen? Oder sonst einen Schwurbel, der eben nur überliefert ist und nicht mehr lebt? Genauso wie Hamlets toter Ahn, der nur noch faul herumhängt und eine gruslige Spukgestalt abgibt. Zeitgeist-Zombies. Kulturelle Überlieferungen sind dies und nicht mehr, Überlieferungen. Ohne Relevanz im Alltag, nur dienlich um in der Rückschau die Entstehung der aktuellen Kultur zu erklären. Akzeptieren muss die keiner, nur konstatieren.

Kein Wort davon im ganzen Buch, dass selbst die Idee des Deutschtums ein neuzeitliches Kunstprodukt ist, von den Ottonen vor Jahrhunderten erdacht, in wilhelminischer Zeit aus machtpolitischen Gründen wieder ausgegraben und eine verbale Beschreibung für etwas, das es in der Realität nie gab. Es gibt keinen deutschen Volksstamm, nur einen Schmelztiegel hunderter Völker mit einer gemeinsamen Verkehrssprache aus lutherischer Quelle.

Und selbst die sprachstiftende Schrift, die Bibel in deutscher Sprache ist die Übersetzung eines Werks aus dem Mittelmeerraum, aus einer fremden Kultur. Der multikulturelle Prozess ist es, der den Kulturraum Deutschland seit Jahrhunderten prägt, nicht eine einzige autochthone, gar homogene, Kultur. Musik ist eine Importkultur, vom Migrantenwerk der 9. Sinfonie bis hin zu aktueller Popmusik. Selbst Bach komponiert mit der Tradition importierter Instrumententechnik.

Und in der Literatur spiegeln die Werke die literarischen Strömungen benachbarter und fremder Kulturkreise wieder, ebenso die dramatischen Stücke und die Libretti der Opern, die an sich schon ein fremdkulturelles Kulturkonstrukt ist.

Fazit

All das kein Grund zum Parteiausschluss, steht doch nirgends in der Satzung, dass Intelligenz Mitgliedsvoraussetzung ist. Und einen fiktiven Roman mit Zahlentabellen als Sachbuch auszugeben ist auch nur Chuzpe, bekommt Herr Sarrazin doch deshalb höhere Tantiemen von der VG Wort.

Und das mit den Juden, die ein Gen teilen? Eine Selbstverständlichkeit, natürlich teilen die ein Gen, wahrscheinlich sogar tausende. Und wenn man der Überlieferung glaubt teilen sie es mit den Arabern, die ja auch alle vom mythischen Abraham abstammen. Wäre das nicht so, wären Vaterschaftstest nur Humbug. Muss man als Tatsachenbehauptung akzeptieren. Aber ist das relevant? Gesellschaftlich relevant? Nein. Genauso relevant wie die Aussage, Brot werde mit Mehl gebacken. Solche Sätze sind nur Tautologien, keine Thesen, keine Hypothesen.

Was bleibt übrig? Ist irgendetwas überhaupt zu widerlegen? Irgendetwas mit rationaler Substanz?

Nein. Deshalb ist das Buch auch kein Grund für einen Rauswurf. Würde man jeden, der sich ab und zu zum salbadernden Wichtigtuer aufschwingt, aus der Partei werfen würden sich die Ränge stark lichten. Parteien haben es nun einmal an sich Wichtigtuer und Selbstdarsteller anzulocken wie Motten das Licht. Umso wichtiger ist es, dass die Parteiführung sich inhaltlich distanziert, dem populistischen Aberwitz eine klare Absage erteilt. Hier ist der Vorsitzende Sigmar Gabriel gefordert ein deutliches Wort zu sprechen und die sozialdemokratische Sichtweise, die nur sozial und demokratisch sein kann, zu vertreten.