Die Parlamentsferien versetzen das Regierungsviertel in Berlin immer in einen Zustand unwirklicher Ruhe. Sitzungsfreie Wochen nennt sich der Zustand offiziell. Diesmal unterbrochen für eine Sondersitzung zur griechischen Krise um Staatsschulden und aufgelockert vom großen Reboot des gehackten Rechnernetzwerks. Aber die großen Veränderungen der Welt gehen am politischen Berlin scheinbar wirkungslos vorüber. Auch das ein Anzeichen strukturellen Zerfalls und der Verknöcherung des Regierungshandelns.
Das Problem ist die Mischung aus Bräsigkeit und Arroganz, aus Großkotz und Couchpatato, die sich in der großen Koalition breit macht. Das ist zwar weit entfernt von den Zuständen unter Georg Kiesinger, das war im umgekehrten Sinn schlimm mit all dem historischen Dissens. Nur heute, in Zeiten des Umbruchs und der Veränderung, bräuchte es eine Regierung, die nicht nur ruhig bleibt im Sinne von Stillhalten, sondern von Nerven bewahren und zielgerichtet agieren.
Was macht die Regierung Merkel?
Sie guckt zu wie das Glas herunterfällt und organisiert dann das Aufräumen und Putzen. Dabei könnte sie das Herunterfallen aufhalten und das Glas bliebe ganz. „Glas“ kann man in diesem Fall durch eine ganze Reihe von aktuellen und brandheißen Problemfeldern ersetzen.
Nicht nur das altbekannte Griechenland, da hat das Glas die Tischkante überschritten und ist im freien Fall. Noch wäre Zeit ein Kissen unterzulegen, einen langfristigen Rahmen zu spannen und eine Absichtserklärung abzugeben, dass man die EU in dieser Hinsicht vertiefen wird – Stichwort Euro-IRS.
Dann die Flüchtlingsströme, da kippt das Glas gerade am Tischrand. Wenn nicht rasch entschieden gehandelt wird, verprellt man die Willigen und die neofaschistische Protestbewegung wachsen wild aus dem Boden. Dabei hätte man schon vor Monaten anfangen können deutsche Flüchtlingsausweise direkt in den Lagern vor Ort auszugeben, die Flüchtlinge mit der Luftwaffe einzufliegen, die Ströme dadurch zu entzerren, lenkbar und bearbeitbar zu halten und die Opfer auf der Flucht und insbesondere im Mittelmeer zu vermeiden. Wir können das besser, schneller und effektiver. Aber nicht mit zuschauen, weggucken und aussitzen.

Schulkinder in Friedenszeiten
Oder die transatlantischen Freihandelsverträge, die Aussage „alles wird gut“ ist lächerlich. Jetzt machen sich auch noch Unternehmerverbände, freie Berufe und Handwerker gegen TTIP/TISA&Co stark. Und noch ein Glas rutscht Richtung Tischkante. Fast könnte man meinen die Regierung gibt ihm einen Schubs um es loszuwerden und die EU-Kommission gegen die Wand laufen zu lassen. Der üble Geruch dieses Vorgangs könnte sich als Schwelbrand herausstellen, der sich zu einem heftigen Feuer im europäischen Haus entwickelt. In dem Fall ist das Glas eher ein Cocktail-Glas nach Art des Molotow.
Diese Starre, dieses Verharren, sie haben mehrere Gründe.
Der Hauptgrund ist die große Mehrheit im Bundestag, auf die sich die Große Koalition berufen kann. Die Opposition übt keinen Druck aus, die Grünen sind unsichtbar, die DieLinke erscheint als Nörgler und prominente Oppositionelle wie Sahra Wagenknecht werden in die Troll/Wichtigtuer-Schublade gesteckt. Und Schwarz-Rot ergeht sich derweil in der Minimierung des Regierungshandelns. Lean Government, wer nichts tut, macht auch keine Fehler. Die vermeintliche Position der Stärke verführt zu dieser Arroganz.
Statt nach dem rechten Weg zu suchen hat man einfach recht, statt sich um besseres Wissen zu bemühen ist man, sie ahnen es sicher, einfach nur besserwisserisch. Das Prinzip Großkotz fängt an die Große Koalition zu repräsentieren.

CDU-Fraktionschef Kauder zelebriert es unverholen mit verfassungsrechtlich bedenklichen Weisungsversuchen gegenüber den freien Abgeordneten. Was Dutzende von ihnen geflissentlich ignorieren und umgekehrt nicht zur Hinterfragung der Kabinettsposition oder zur Konsensbildung führt, sondern einfach der Ignoranz anheim fällt. Es ist die bequeme große Mehrheit, die dem politischen Betrieb jede Dynamik, jede konstruktive Auseinandersetzung und jeden Kampf um die beste Lösung raubt. Couchpotato-Parlament. Man ist als Abgeordneter dafür oder dagegen, aber eigentlich ist es egal, weil rein statistisch eine Mehrheit für die Regierung zusammenkommt und damit das Theater der Republik weitergeht. Dass dabei das Stück auf dem Programm nicht mehr aktuellen Zeitgeist repräsentiert, sondern ein Narrenschiff des Biedermeier zeigt, keinen stört es.
Und das ist gefährlich.
Nachdem China ins Wanken gekommen ist, die USA heillos überschuldet sind und Russland nur noch ein halbnackter Altherren-Witz, Indien und Brasilien sich hinter der Schwelle verstecken und Japan sich einigelt, ist Deutschland die letzte Großmacht, die noch die Autorität hätte um gestaltend in der Weltpolitik wirken zu können. Tun Merkel und ihr Kabinett aber nicht. Man lässt sich träge treiben. Und selbst beim größten anzunehmenden Krisenfall, einem bewaffneten Konflikt in Europa, betreibt man minimal-invasive Interventionspolitik. Auch von den alten europäischen Mächten ist nichts zu erwarten, Hollande und Cameron kriegen nicht mal die Gemüseschublade im heimischen Kühlschrank unter Kontrolle, geschweige denn internationale Konflikte. Am Ende finden die Gläser auf dem Tisch der Welt nicht mehr Beachtung, als die im heimischen Kabinett der Frau Merkel. Da ist es dann wieder, dieses Großkotz, dieses Mir-kann-keiner, dieses „alles wird gut“. Aber das Leben ist kein Ponyhof und der Verzicht auf Machtausübung schafft immer ein Machtvakuum.
Und wer füllt das Machtvakuum?
Megalomanen wie Erdogan. Getriebene wie das Königshaus der Saudis. Opportunisten und Egozentriker wie Orban. Und die Epigonen der Schlächter aus der Voßstraße, das Kalifat des ISIS. Mit all den Folgen für Menschen, darunter der Tod im Mittelmeer auf der Flucht. Oder die Sklaverei. Oder der Tod als Kanonenfutter. Oder Schlimmeres. Und der expansionistische Wahnwitz gleicht dem Größenwahn, der damals in der Reichskanzlei herrschte. Am Scharia-Wesen soll die Welt genesen. Und das passiert nicht am anderen Ende der Welt, sondern auf einem Teil der europäischen Kontinentalplatte, in Europa.
Politisches Nichthandeln ist die schlimmste Form großkotziger Arroganz.
Politik muss vorausschauend handeln. Politik muss gestalten. Politik muss Impulse geben. Wenn das fehlt, ist es keine Politik mehr. Dann ist es Verwaltung. Bürokratie. Stagnation. Zerfall. Chaos.