Ein Strand, das Meer, diesmal ohne Kind. Aber wir alle haben das Bild im Kopf, das einen toten Jungen am Strand liegend zeigt, im roten Hemd, das Gesicht im Sand. Die Wellen im Hintergrund.
Eine Ikone des 21. Jahrhunderts.
Wenden wir zuerst der Frage zu, ob das Foto überhaupt gezeigt werden soll. Das ist keine Frage der Politik, sondern eine zutiefst persönliche Angelegenheit. Gibt es Fotos, von uns, die wir nicht gezeigt sehen wollen? Sind es nicht wir selbst und unser kulturelles Verständnis, die zu entscheiden haben, ob ein Foto von uns angebracht ist und öffentlich gemacht werden kann, oder nicht? Da der tote Junge nicht selbst entscheiden kann, können wir nur mutmaßen. Da im Islam die offene Aufbahrung und die Totenwaschung üblich sind, ist das Photo nicht kulturell unangebracht.
Kommen wir zum anderen Punkt, dem Ende des Lebens an sich. Jeden Tag sterben viele Tausend Menschen, die meisten davon vor der Zeit an Unfällen, Gewalt, Krankheiten und Umwelteinflüssen. Keiner weiß wann wem die Stunde hätte schlagen sollen. Es hätte auch sein können, dass der Junge glücklich am Ziel ankommt und dort am nächsten Tag von einem Motorrad überfahren wird oder an einer Gräte erstickt. Die Bedeutung dieses speziellen Todesfalls kommt durch seine fehlende Beispiellosigkeit zustande, dass er einerseits so banal und alltäglich ist, auf der anderen Seite gerade dadurch so emotional aufgeladen wird. Er ist ein Exempel. Er steht für all die anonymen Toten. Und er gibt ihnen ein Gesicht, und er gibt ihnen eine unüberhörbare Stille voller unüberhörbarer Schreie.
Und dass wir hier mitfühlen und Trauer empfinden, dass wir hier den ganzen Schrecken Einzug in unser Denken halten erleben, das ist nicht politisch, daraus entsteht keine Politik und kein politisches Handeln.
Das Handeln, das hier angesagt ist, heißt Helfen und Helfen ist keine Frage der Politik.
Hilfe in der Not ist nichts was einer Entscheidung oder eines politischen Konsenses bedarf. Helfen in Not ist ein Ausdruck und Teil unseres Menschseins, unserer Existenz. Diesen Reflex nicht zu haben, nicht zu leben, heißt nicht nur das Mensch zu sein aufzugeben, sondern auch sich von der Existenz als höheres Wirbeltier zu verabschieden und ein Leben als Molluske zu führen oder als Insekt. Dann soll man es aber wie Gregor Samsa halten und das Zimmer nicht mehr verlassen.
Hätten wir ohne das Netz von ihm erfahren?
Ja. Wir haben auch von Kim Phúc ohne Netz erfahren, dem vietnamesischen Mädchen, das Opfer der amerikanischen Napalm-Angriffe auf zivile Ziele wurde.
Gerechtigkeit? Die liegt im Auge des Betrachters. Ein mit sechs Monaten in Sierra Leone an Ebola verstorbenes Kind würde den Jungen am Strand um sein so viel längeres Leben beneiden, wenn es könnte und davon gewusst hätte. Wir, die wir länger leben, tun wir dem toten Kind eine Ungerechtigkeit an? Nein, denn wir sind nicht die kausale Ursache für seinen Tod. Die Verantwortung liegt auch nicht beim Vater, der die Flucht wagte oder bei den Bedingungen auf der Flucht. Die kausale Ursache, dass der Junge nicht mehr zuhause im Hof Fußball spielt und lebt um in die Schule zu gehen, liegt einzig und allein bei der Mörderbande des IS. Sie sind die einzige und singuläre Ursache, dass Aylan nicht mehr lebt. Sie haben die Kette der Ereignisse, die an diesen Punkt geführt hat, zu verantworten. Sie, sonst niemand. Alle anderen sind nur reagierende, keine agierenden Spielfiguren in diesem Krieg der Barbarei gegen die moderne Zivilisation.
Und zuletzt, der Glaube. Wissen wir welchen Glauben der Junge hatte? Nein. Denn in dem Alter kann das menschliche Gehirn noch keine metaphysische Abstraktion vornehmen, nicht glauben, jedenfalls nicht im religiösen Sinn. Einen eigenen Glauben hatte dieses Kind noch nicht. Er hat wahrscheinlich in einer Glaubensgemeinschaft gelebt, nachdem säkulare Strömungen in Syrien nicht sehr verbreitet waren. Was er als älterer Mensch, als Jugendlicher für sich als Weltanschauung und Bekenntnis erschlossen hätte können wir nicht einmal vermuten. Was bleibt, ist seine kulturelle Zugehörigkeit zur syrischen Zivilgesellschaft und deren Sepulkralkultur. Und dort sind öffentliche und offene Aufbahrungen üblich. Wie sie es auch in Deutschland lange Zeit waren. Älteren Mitbürgern sind derartige Anlässe noch gut im Gedächtnis, insbesondere von gläubigen Familien in katholischen Landstrichen.
Und eines wissen wir auch, wäre Glaube und Religion nicht politische Angelegenheit und Instrument der Macht, sondern nur persönlich und privat, dann würde es diesen Schrecken, wie so viele andere in den vergangenen Jahrtausenden, nicht geben. Glaube und Religion sind eine Geißel der Menschheit, die es bald und nachhaltig zu überwinden gilt.