Das Land Baden-Württemberg plant seit dem Regierungswechsel nach der letzten Landtagswahl über 500 Studienplätze im Bereich der Musikhochschulen zu streichen. Die Motivation ist unklar, da Kostengründe keine Rolle spielen können, bringen die zumeist ausländischen Studenten doch mehr Steuerertrag und Wirtschaftskraft ins Land und die Hochschulstandorte, als die Studienplätze das Land kosten.
Trotzdem wird immer wieder ein Bericht des Rechnungshofs angeführt, der den Umfang der Musikerausbildung an Hochschulen kritisiert, aber im Vergleich mit anderen Ländern der EU übersieht, dass es dort neben den staatlichen Hochschulen auch noch die staatlichen und privaten Konservatorien als Ausbildungsstätten auf gleichem Bachelor-Niveau gibt.
Dazu kommt die Aussage, dass es weniger als ein Sechstel der Studienplätze betreffen würde. Da die Kürzungen ausschließlich die klassische Instrumentalausbildung zum Orchestermusiker betreffen und die Bereich Jazz- und Popmusik, sowie alte Musik, Barock-Musik, Kirchenmusik und die Ausbildung zum Schulmusiker unberührt bleiben, werden in diesem speziellen Segment mehr als ein Viertel der Studienplätze gestrichen.
Umstrukturierung und Spezialisierung
Diese Streichungen konzentrieren sich auf die Standorte Mannheim und Trossingen. Diese werden zu Sparten-Hochschulen umgebaut. In Mannheim konzentriert sich dann der Pop- und Jazz-Bereich der Musikerausbildung und in Trossingen findet eine Verengung auf die alte Musik bis zum Barock statt.
Das Konzept hat Zustimmung und Kritik erfahren, die über die Musik-Hochschulen hinausgehende Wirkung bleibt in diesen Betrachtungen auf der Strecke. Der Rechnungshofbericht ist nur Entschuldigung, die Entscheidung war lange vor der Arbeit des Rechnungshofs vorbereitet und ausgearbeitet, man hat nur auf den passenden Anlass gewartet.
Gebrauchsmusiker als Job statt Künstler
Diese Entwicklung in Baden-Württemberg hat drei besonders negative Auswirkungen, für die es andere konstruktive Lösungen gegeben hätte.
Auswirkung 1
Es wird ein Präzedenzfall geschaffen, der sowohl die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre in Frage stellt, als auch die der Hochschulen im Allgemeinen. Nicht die Nachfrage der Studenten regelt das Angebot an Studienplätzen, sondern die Landesregierung versucht über Studienplatz-Kontingente die Nachfrage zu deckeln.
Hier hätte man über höhere Studiengebühren für alle nachdenken können und leistungsabhängige Stipendien vergeben zur Kompensierung vergeben müssen. So hätte das Land sowohl die Nachfrage auf herausragende Talente konzentriert, als auch weiterhin jedem Studenten die eigene und freie Wahl gelassen. Wer ohne Talent, aber mit elterlichem Geld ausgestattet zum eigenen Vergnügen studiert hätte, hätte niemand einen der zukünftig seltenen Plätze weggenommen. Im Gegenteil er hätte einen Stipendiaten mitfinanziert, der sonst keine Gelegenheit zum Studium gehabt hätte.
Die Schaffung von Berufsakademien, die die Berufsausbildung zum Gebrauchsmusiker in Festanstellung zum Ziel haben und im dualen System mit den entsprechenden Arbeitgebern realisiert würde, wäre eine zukunftsweisende Option gewesen. Nicht alle Länder bauen Orchester- und Berufsmusikerplätze ab, an dieser Stelle seien neben den arabischen Staaten vor allem die BRICs-Staaten aufgeführt. Deutschland hat eine Ausbildungskompetenz und eine Bildungsangebot, die hier ersatz- und entschädigunglos vernichtet werden.
Auswirkung 2
Es wird ein Zusammenhang zwischen Studienplatzzahlen und gegenwärtigen, nicht zukünftigen Berufschancen manifestiert. Aus freier Berufswahl wird Planwirtschaft. Das ist der Einstieg in die Bolschewisierung der akademischen Bildung – Veränderung um der Veränderung willen und sture Ausrichtung am Mainstream. Damit wird die Struktur und die Dynamik der Hochschulbildung dem Diktat politischer Diskussions- und Klüngelrunden unterworfen.
Statt Eigendynamik, lebendiger Fortentwicklung und innovativer Anpassung an die Herausforderungen sind die Hochschulen nun dem Diktat des Plansolls unterworfen – staatsregulatorische Edikte nach Vorbild mittelalterlicher Fürstenmäzene, Studienplatz als Gnadenakt und akademisches Almosen des Landes.
Auswirkung 3
Diese Kontingentierung und Nationalisierung der akademischen Bildung wird ausgerechnet in einem Fachgebiet kultureller Kernkompetenz vorgenommen. Statt bei Veränderungen in der Berufswelt eine stärkere Ausrichtung der Studiengänge auf die freiberufliche Tätigkeit vorzunehmen, vier Semester-Wochenstunden YouTube-Präsentation, 2 Semester-Wochenstunden Homepage-Design, sowie Workshops in Rhetorik, Selbstdarstellung und Interview-Technik in den Lehrplan aufzunehmen, werden Studienplätze abgebaut.
Rückbau statt Zukunftsorientierung, da hätte man statt des Umbaues des Kfz-Mechanikers zum Mechatroniker auch die Ausbildungsplätze des veralteten Berufsbilds ersatzlos abbauen können, schließlich ist eines sicher, eher stirbt der Individualverkehr aus, als das Hören von Live-Musik.
Ein Verdacht kristallisiert sich
Im Nachhinein muss man vermuten, dass sowohl die Zusammenlegung der Rundfunkorchester, als auch die Einschränkungen der staatlichen Philharmonien und selbst die fehlenden Investitionen in den Konzertsaal-Bau der letzten Jahre und Monate nur eine Vorbereitung waren um die Berufsbedingungen für Orchestermusiker zu beschneiden und mit dem Rückbau an den Hochschulen zu krönen. Es ist eine Absage an Bildungsinhalte und Berufsbilder, die sich der Ökonomisierung entziehen, einen elitären Leistungsanspruch repräsentieren, individuelle Spitzenleistung herausstellen und generell ein Aushängeschild deutscher Leitkultur im Ausland sind. Statt Selbstbewusstsein demonstriert Baden-Württemberg Selbst-Depression.
Nachdem jetzt der Tunnel in Stuttgart zur Anbindung des neuen City- und Regionalbahnhofs (S21) begonnen hat, das zweite Fanal der Provinzialität in einer Woche. Schon bei dem zentralen Neubau hat sich Baden-Württemberg dem Weltstadt-Niveau verweigert und sich für einen Zwerg-Bahnhof mit 6 Halte- und 2 Durchfahrt-Gleisen entschieden, die nur über eine einzige Zufahrtstrecke angebunden werden. Auch hier blendet man die Entwicklung der Welt, die Globalisierung und den zukünftigen Zugverkehr von Tahrir-Bahnhof über Taksim-Station bis zum neuen Hauptstadtbahnhof eines unabhängigen Schottland aus.
Globale Situation
Die Welt verändert sich, da darf man nicht zu spät kommen oder sich verstecken, sich zurückziehen. Man muss die Herausforderung annehmen, sich aktiv anpassen, nicht passiv. Die Veränderung der medialen Welt, mit Hangouts, YouTube-Livestreams und -Channels, ist eine Riesenchance für freiberufliche Musiker sich selbst zu vermarkten, seine Musik weltweit zu verkaufen. Diesem boomenden Markt mit wachsenden Marktchancen für klassisch ausgebildete Musiker verweigert sich das Land Baden-Württemberg.
Gerade in Deutschland ausgebildete Instrumentalisten, deren Ethno-Musik europäischer Prägung in weiten Teilen der Welt eine beliebte und exotische Unterhaltung ist, haben mit ihrem hervorragenden Ruf einen Vermarktungsvorteil und können mit Ihrer Leistung und Angebot in diesem neuen Markt bestehen.
In zwanzig Jahren wird man dann mit Häme auf diesen Punkt der Geschichte zurückblicken, wenn die Musik woanders spielt, die 100 Fernzüge pro Stunde an der Landeshauptstadt vorbeifahren und sich auch die letzten Weltunternehmen an andere Standorten verlagert haben, weil ihre Manager und Entwickler nicht „habiter au diable vauvert“ wollen. Der Franzose drückt es weniger rektal aus, aber nicht weniger treffend.
Die Welt ist komplex, Occam’s Razor ist für die Theorie, nicht für die Praxis.
Linkhinweise
- SWR2 Cluster Podcasts vom 15. bis 19. Juli zum Thema
verfügbar bis ca. Ende August 2013 – beschweren Sie sich bei ihrem
Landtagsabgeordneten über diese zeitliche Beschränkung der Archivangebote
der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender. - Rhein-Neckar-Zeitung 19. Juli 2013 (Update 2019: Webseite existiert nicht mehr)