Der Begriff der Kulturnation beschreibt eine Auffassung, die unter einer Nation eine Gemeinschaft von Menschen versteht, die sich durch Sprache, Traditionen, Kultur und Religion miteinander verbunden fühlen, also durch Zugehörigkeit zu einer Kultur. Das Nationalgefühl einer Kulturnation beruht auf einer gemeinsamen Kultur. Eine Kulturnation ist einem Staat gedanklich vorgelagert und von staatlichen Grenzen unabhängig, sie existiert auch ohne eigenen Nationalstaat.

Wikipedia

Handelt es sich bei Facebook um eine solche?

Was unstrittig sein dürfte, Facebook hat seine eigene Kulturform, seine eigenen Spielarten der lokalen Sprachen, Soziolekte. Auch Glaubensformen, die ihren Ursprung in Facebook haben, kann man finden. Gemeinhin bezeichnet man sie als Verschwörungstheorien oder esoterische Gruppen. Auch die Icons von Facebook stellen eine eigene Schrift und Kulturleistung dar. Und Traditionen wie der Shitstorm oder der Flashmob sind Facebook-eigene Kulturformen.

Es wird gesagt, dass das im Begriff der Kulturnation enthaltene Zusammengehörigkeitsgefühl zeitlich der Gründung eines Nationalstaats vorausgehe. Dass man die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Kulturnation nicht „feststellen“, sondern nur subjektiv bewerten könne. Was spricht dagegen Facebook als eine solche anzunehmen? Nichts?

Seit dem 1000-jährigen Reich kann man von der Vorstellung Abschied nehmen, dass es sich bei Kulturnationen um etwas generisch wertvolles handelt. Auch unter diesem Aspekt werden keine Anforderungen an Facebook gestellt. Es muss sich weder als Hochkultur beweisen, noch muss es frei von Abscheulichkeiten sein. Merke, auch der NS-Staat war eine Kulturnation.

Auch die Barbarei ist eine Kulturform

Der französische Historiker Michel Henry sieht unsere Kultur in eine Kultur der Barbarei abdriften. In seiner phänomenologische Kulturkritik „Die Barbarei“ schreibt er darüber.

Eine neue Barbarei durchdringt unsere Gesellschaft, da erstmals Wissen und Kultur auseinanderfallen.

Michel Henry

Unter diesem erweiterten Begriff von Kultur findet sich auch Facebook wieder. Ist es aber auch eine Nation?

person using a laptop

Die Grundanforderung an den Nationenbegriff erfüllt Facebook. Es ist ein Kollektiv von Menschen. Sie haben gemeinsame Merkmale wie Soziolekt, Tradition, Sitten und Bräuche. Nur an der Abstammung hapert es noch, aber diese Anforderung ist bei neu entstehenden Nationen nie erfüllt.

Die räumliche Abgrenzung ist eine Anforderung, die gerade von Nationalisten bestritten wird, die den Einflussbereich des eigenen Nationalstaats ausdehnen wollen. Wobei Facebook durchaus räumliche Grenzen hat und in manchen Ländern quasi nicht vorkommt oder vorkommen darf. China, Russland, Japan und weite Teile Afrikas sind fast Facebook-frei.

Ein Nationalstaat ist Facebook definitiv nicht. Noch nicht. Wer weiß schon was Zuckerberg vorhat.

Stätten der Kultur?

Hat Facebook kulturelle Manifestationen wie Museen, Theater, Opernhäuser? Ja, hat es. Einmal die Repräsentanzen entsprechender Einrichtungen auf der ganzen Welt. Aber auch Künstler, die mittels Veröffentlichung eigener Werke auf Facebook nur dort existierende Kultur-Manifestationen erschaffen.

Einige der Kunstformen sind außerhalb von Facebook undenkbar. Jedes soziale Netzwerk hat seine eigenen Publikationsformate, die die Kulturform prägen und identifizierbar machen. Seitenverhältnis, Videoformat oder exklusive Veröffentlichung und Branding. Es gibt sogar eine eigene akademische Szene, die Künstler und Kulturschaffende darin ausbildet Facebook zu nutzen um Werke zu erschaffen und Darbietungen zu ermöglichen.

close up photo of statue
Photo by Michael Noel on Pexels.com

Anwendung der Sichtweisen des 20. Jahrhunderts

Hier wird es kompliziert. Einmal gibt es den Begriff der Kulturnation aus der Kultur selbst heraus definiert. Dort sind es die tatsächlichen oder vermeintlichen kulturellen Gemeinsamkeiten, die diese Nation definieren. Daraus ergibt sich eine genau umrissene und begrenzte Kulturnation. Hier fehlt es Facebook an herausragenden inneren Proponenten, die den Anspruch formulieren und vertreten. Bei Facebook fehlt es zwar nicht an der nötigen Identifizierung mit dem Kulturraum, aber an der Aussicht auf Akzeptanz. Die kommerzielle Seite von Facebook und die Verwicklung in politisch dubiose Machenschaften sind dabei nicht zuträglich.

Facebook könnte die erste Kulturnation sein, die sich selbst zerstört und mit sich auch die spezielle Kultur des Netzwerkes.

Politische Machtansprüche

Es gibt aber auch noch die andere Sichtweise der Nation, die des politischen Machtanspruchs. In Bezug auf die deutsche Nation wurde sie von den Hohenzollern befördert und propagandistisch begleitet. Dabei ging es um Legitimierung von Macht. Die Transformation der souveränen europäischen Staaten des deutschsprachigen Raums in ein zusammenhängendes Staatsgebilde. Dazu wurde mittels Geschichtsklitterung aus dem „Imperium Sacrum Romanum Regnum Teutonicum“ ein „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“. Mit geschickten semantischen Tricks, fehlerhaften Übersetzungen und manipulativer Sprachwahl wurde eine Nation erfunden, die es als Kulturnation schon gab.

Aber die Kulturnation war nicht automatisch eine Legitimation einer bestimmten Staatsform oder eines bestimmten Herrscherhauses. Schon in der Literatur vor Gaius Julius „Commentarii rerum gestarum Galliae“ wird klar, das „teutonicum“ für „nördlich der Alpen“ und nicht für eine spezifische Volksgruppe steht. Es gibt außerhalb von Romanen und Novellen ab dem 19. Jahrhundert keinen Beleg, dass der Begriff hereditär oder kulturell verortbar ist. Klar ist nur, dass der Begriff entstand, als das Reich nicht mehr aus Sizilien sondern von nördlich der Alpen regiert wurde.

julius caesar marble statue
Photo by Skitterphoto on Pexels.com

Facebook dagegen wird durchaus in diesem Sinne benutzt und instrumentalisiert. Es gibt genug politische Akteure und Gruppen, die beanspruchen auf Facebook die Deutungshoheit zu haben. Und sie leiten daraus ebenfalls einen Machtanspruch ab. Jedoch nicht über die Facebook-Nation, sondern über vielfältigste Nationen der klassischen Art. Diese Form der Bedeutungsübertragung findet man im Zusammenhang mit Kulturnationen in den vergangenen Jahrhunderten nicht.

Kann sich das ändern?

Ganz am intellektuellen Rand des Netzwerks kann man die ersten Töne hören. So hat der Publizist Jan Böhmermann in seinem Buch „gefolgt von niemandem dem du folgst“ bereits die Verstaatlichung des Netzwerks gefordert. Zwei Jahre zuvor (2018) hat der Kolumnist Christopher Lauer diese Forderung ebenfalls formuliert.

Mit einer Verstaatlichung, die nur eine Überführung in eine überstaatliche Körperschaft des öffentlich Rechts sein kann, würde Facebook tatsächlich zur Nation. Mit dieser Entwicklung, egal ob unter der Ägide der UN oder unter einem neuen Konstrukt des Völkerrechts, würde sich Facebook auf diesen Weg begeben. Die Verstaatlichung würde dann in die Bildung eines neuen eigenen Staates münden. Es würde die Staatsbürgerschaft der Facebook Nation und Pässe, Botschaften und ein parlamentarisches System geben. Selbst Rechtsprechung und Vollzugsorgane sind dann denkbar.

Klar ist, dass Facebook dem Begriff der Nation der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspricht. Eine Zeit in der die Ethnie keine Rolle spielte und die kulturellen Gemeinsamkeiten überwiegten.

Wie kann die Zukunft aussehen?

Dabei leidet Facebook auch unter der gleichen Geburtsschwäche wie viele andere Kulturnationen auch – die Religion. Bedingt wird es durch die Anteile bestimmter Herkunft an Facebookianern, hier haben die jüdisch-christlichen Länder eine deutliche Mehrheit. Dies prägt Aspekte wie das Nippelverbot und eine amerikanisch geprägte Prüderie. An dem Punkt an dem Facebook in eine Eigenverwaltung und nationale Selbständigkeit entlassen werden würde, werden Konflikte um diese religiösen Facetten der Facebook-Kultur ausbrechen.

Daran wird es sich auch entscheiden ob Facebook tatsächlich als eigenständige, virtuelle und globale Kulturnation existieren kann oder ob es scheitert und dem Weg der antiken Nationen geht, die mitsamt ihrer Kultur nur noch in der Erinnerung existieren.